Dieser Text ist als Carte Blanche am 30. September 2025 bei der Volksstimme erschienen.
Die zwei Prinzipien unserer Bundesverfassung sind die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie. Grundrechte schützen vor staatlichen Eingriffen, die Demokratie gewährleistet Partizipation. Wir sind zurecht zufrieden mit diesem System.
Doch unsere Staatsform gerät weltweit immer mehr unter Druck. Nicht nur die Zahl der Demokratien nimmt weltweit ab, auch ihre Qualität: Selbst da, wo noch immer freie Wahlen stattfinden, unterhöhlen politische Führer die Freiheit der Presse, der Justiz und der liberalen Grundrechte. Selbst die älteste Demokratie der Welt, die USA, kommt unter Donald Trump immer mehr ins Wanken.
In krisenhaften Zeiten lohnt es sich, gerade als kleines Land, sich mit jenen zu verbünden, die unsere Werte teilen. Wir leben zum Glück im Herzen Europas, und profitieren davon wirtschaftlich, kulturell, gesellschaftlich, nicht zuletzt auch sicherheitspolitisch.
Unser Gewerbe wirtschaftet auf den europäischen Märkten, unsere Universitäten sind Teil europäischer Wissenschaftsnetzwerke und unser wirtschaftlicher Erfolg der letzten Jahrzehnte lässt sich massgeblich auf das Personenfreizügigkeitsabkommen und auf die Bilateralen Verträge mit der Europäischen Union zurückführen.
Die Personenfreizügigkeit ist aber auch eine enorme soziale Errungenschaft. Unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder anderer Merkmale gibt das Abkommen allen Personen in der Schweiz und EU das Recht, in Europa ein Leben aufzubauen, sofern man Arbeit findet. Nur dank der Personenfreizügigkeit ist die grenzüberschreitende Mobilität in Europa ein Freiheitsrecht für alle, und nicht ein Privileg für die Reichen und Mächtigen.
Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs kommen Menschen zu uns in die Schweiz. Sie folgen unserem Ruf nach Arbeitskräften. Ohne sie würden das Gesundheitswesen, die Altersheime und die Schulen längst kollabieren. Alleine in unseren Spitälern arbeiten 33 Prozent Personen ohne Schweizer Pass, wobei die meisten aus Deutschland, Frankreich und Italien kommen. Dies wird sich mit dem demografischen Wandel noch verstärken. Die Zahl der Personen ab 65 Jahren wird in den nächsten dreissig Jahren um mehr als die Hälfte ansteigen. In 10 Jahren fehlen der Schweiz eine halbe Million Vollzeitbeschäftigte.
Die SVP will mit ihrer Initiative diesen Erfolgsweg beenden. Wir würden wieder Kontingente einführen müssen und damit zurück in unsere dunkle Vergangenheit reisen – in eine Zeit, in der Gastarbeiter in Barracken wohnten und sie ihre Kinder verstecken mussten. Heute wird geschätzt, dass wegen dem Saisonnierstatus 500’000 Arbeiterfamilien auseinandergerissen wurden.
Schliesslich würde mit dem Ende der Personenfreizügigkeit auch die flankierenden Massnahmen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt wegfallen. Diese sind gemäss Entsendegesetz mit den Bilateralen Verträgen verknüpft. Ohne diese Lohnschutzmassnahmen würde der Druck auf die Löhne massiv steigen – und zwar für alle Arbeitnehmende. Denn sinken die Löhne im Baugewerbe, in der Gastronomie oder im Dienstleistungsbereich, kommt das gesamte Lohngefüge ins Rutschen.
Die SVP-Initiative bedroht die Schweiz, wie wir sie heute kennen. Deshalb lehne ich sie ab. Die Stimmbevölkerung wird nächstes Jahr darüber abstimmen können.