«Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen»

Die Kündigungsinitiative der SVP wird in der Septembersession im Nationalrat diskutiert. Wer das Argumentarium der Initianten bereits überflogen hat, weiss, dass diese Initiative angeblich alle Probleme unserer Zeit auf einen Schlag lösen soll: Egal ob es um Gewalttaten, um die Überlastung unserer Gesundheitsinstitutionen, die Energieversorgung oder den Klimawandel geht: Die Kündigungsinitiative regelt es. Doch worum geht es den Initiant*innen wirklich? Die SVP will den Lohnschutz abschaffen, damit Konzerne in der Schweiz noch höhere Gewinne für Manager und Aktionär*innen erzielen können. 

Die Kündigungsinitiative wurde aus SVP-Kreisen lanciert. Sie will den Grundsatz der eigenständigen Regelung der Zuwanderung durch die Schweiz in der Bundesverfassung festschreiben, sowie das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU innerhalb eines Jahres einvernehmlich auflösen – oder innerhalb eines Monats einseitig kündigen. Zudem dürften keine neuen internationalen Abkommen mehr abgeschlossen werden, welche eine Personenfreizügigkeit vorsehen. 

Das Märchen der Selbstbestimmung

Die SVP-Kreise inszenieren sich gerne als Rückeroberer der nationalstaatlichen Souveränität., Mit der Steuerung der Einreisen von ausländischen Arbeitskräften mittels Kontingenten würden wir an demokratischer Mitsprache gewinnen und die Migration würde reduziert werden. Das ist an sich ja kein erstrebenswertes Ziel. Doch selbst wenn man sich auf den Standpunkt stellt, die Einreise von Arbeitskräften stelle ein Problem dar, bringt dafür ein Ja zur Kündigungsinitiative nichts. Denn eine Kündigung der Personenfreizügigkeit (FZA) führt weder zu einem Souveränitätsgewinn in Sachen Migrations- und Aussenpolitik, noch löst sie irgendwelche innenpolitische Herausforderungen. Im Gegenteil: Die Initiative wird die Migration nicht eindämmen, sondern in erster Linie verstaatlichen und bürokratisieren. Der Bund würde in Zukunft, wie vor der Einführung der Personenfreizügigkeit, via Kontingente ausländischen Arbeitskräften den Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt geben. Damit sinkt die Arbeitsmigration jedoch nicht. Aus einem einfachen Grund: Weil die Schweizer Wirtschaft darauf angewiesen ist. 

Die Initiative kündigt die flankierenden Massnahmen – und damit den Lohnschutz 

Die Personenfreizügigkeit ist nämlich heute alles andere als ein Free-Border-Regime. Es ist ein marktwirtschaftlicher Mechanismus zur Integration eines internationalen Arbeitsmarktes mit wichtigen staatlichen Schranken, den sogenannten flankierenden Massnahmen (FlaM). Sie dienen nicht zur Abwehr der Menschen, sondern als Schutzmechanismus vor der Macht der Unternehmungen. Sie haben den Zweck, ein gegenseitiges Unterbieten des Wertes der Arbeitskraft zu verhindern und damit Dumpinglöhne zu unterbinden. Die verschiedenen Mechanismen dafür werden im Entsendegesetz festgehalten. Die Gültigkeit dieser Gesetzesgrundlagen sind aber direkt an die Personenfreizügigkeit gekoppelt: Wird die FZA gekündigt, werden damit die FlaM aufgehoben. 

Saisonnierstatut: Niemals wieder! 

Der Effekt der Initiative wird also sein, dass zwar weiterhin die benötigten Arbeitskräfte ins Land gelassen werden, die Betroffenen allerdings eine massive Entrechtlichung erleben und den Menschen in Europa (und dazu gehört die Schweiz natürlich auch) eine wichtiges Freiheitsrecht entzogen wird. Die Generationen vor mir werden sich erinnern können an die unzähligen Schicksale, die unter dem Saisonnierstatut einzig und alleine auf ihre Arbeitskraft reduziert wurden. Die Folgen waren brutal: Die Arbeiter*innen wurden jeweils im Frühling für die Saison ins Land gelassen (weil erst dann von der Wirtschaft auf dem Bau, in der Landwirtschaft und der Gastronomie benötigt), allerdings mussten sie sich u.a. an der Grenze einer extrem entwürdigenden Untersuchung unterziehen – wer nicht über eine gute Gesundheit verfügte, wurde zurückgeschickt. Wer die Grenze dann überschreiten durfte, musste am Stadtrand mit den anderen Saisonniers in Baracken in engen Zimmern und ungenügenden sanitären Anlagen wohnen. 

Die Entrechtlichung der Arbeiter*innen  

Bei Konflikten am Arbeitsplatz waren die Saisonniers vollkommen rechtlos. Da sie für den Erhalt ihres Aufenthaltsrecht in der Schweiz bei demselben Unternehmen angestellt bleiben mussten und Stellenwechsel nicht erlaubt waren, hatten die Betroffenen gerade bei missbräuchlichen Kündigungen keine Chance, sich dagegen zu wehren. Die einzige Alternative zur absoluten Abhängigkeit des Arbeitgebers war die Rückkehr ins Heimatland. 

Der Familiennachzug war zuerst verboten, danach nur mit zahlreichen Hürden möglich, Kinder wurden in Internate versteckt und durften je nach Kanton nicht einmal die obligatorische Schule besuchen.  

Ausbeutung – mit und ohne Schweizer Pass 

All dies war nicht nur menschenunwürdig, sondern brachte katastrophale ökonomische Auswirkungen mit sich. Die Arbeitgeber konnten systematisch immer wieder neue, junge Saisonniers anstellen, wodurch die Löhne tief blieben. Im Schnitt verdienten die ausländischen Arbeiter*innen 15% weniger als ihre Schweizer Kolleg*innen. Und auch die Schweizer Arbeiter*innen litten unter dem hohen Druck auf das Lohnniveau. 


Die Initiative kündigt die Bilateralen I und II 

Der Bundesrat lehnt die Initiative ab mit der Begründung, dass ein Wegfall der Personenfreizügigkeit die Bilateralen I und II und damit unseren Wirtschaftsstandort und den Wohlstand in der Schweiz massiv gefährden würden. Da der Initiativtext explizit eine Auflösung innerhalb eines Jahres verlangt und bei Misslingen eine automatische Kündigung folgen müsste, ist das von der Landesregierung gefürchtete Szenario durchaus richtig und dessen Folgen tatsächlich katastrophal. Die Rechtssicherheit im Bereich der wirtschaftlichen Verflechtung mit der europäischen Union ist grundlegend für das Exportland Schweiz. 

Denn wir leben in einer durch und durch globalisierten Wirtschaft und die Schweizer Volkswirtschaft ist in vielerlei Hinsicht grösser, als es die geographische Grösse des Landes suggeriert. Mitunter ein Grund dafür ist die im weltweiten Vergleich ausserordentlich aggressive schweizerische Tiefsteuerpolitik, die über Jahrzehnte unzählige Unternehmungen in die Schweiz gelockt und Steuersubstrat aus anderen Ländern abgezogen hat. Zudem stellt die Schweiz bis heute dank der Stabilität des Schweizer Frankens und bis vor kurzem auch dank dem Steuerhinterziehungsgeheimnis einen sicheren Hafen fürs Grosskapital dar, das in einer von (selbstverschuldeten) Krisen und Unsicherheiten geprägten Weltfinanzwirtschaft auf der Suche nach Rendite ist. 

In unseren politischen Auseinandersetzungen stehen wir deshalb bei nationalstaatlich zu klärenden Fragen immer öfters vor der Übermacht einer globalisierten Wirtschaftselite, die sich in den letzten Jahrzehnten der liberalisierten Globalisierung tatsächlich eine massive finanzielle und politische Macht angeeignet hat. Doch darum geht’s den SVP-Grossunternehmer*innen nicht – im Gegenteil.

SVP will flankierende Massnahmen aufheben, den Lohnschutz aushebeln und greift unsere Löhnen an

Sie stören sich an den flankierenden Massnahmen, weil sie verhindern, dass Lohnabhängige verschiedener Nationalität gegeneinander ausgespielt werden können. Martullo-Blocher äusserte sich an einer SVP-Pressekonferenz zum Beispiel empört darüber, dass Bäcker*innen und Konditor*innen trotz einerabgelehnten Volksinitiative dank einem Gesamtarbeitsvertrag, sechs Wochen Ferien zugute haben. Sie fordert den Abbau der flankierenden Massnahmen und behauptet, das würde keinen Lohndruck verursachen – obwohl uns die Geschichte das Gegenteil beweist. Arbeiter*innen mit unterschiedlichen Pässen sollen wieder gegeneinander ausgespielt werden können. Damit wird ersichtlich, worum es wirklich geht – nicht um Migration, sondern um die Beschränkung der Rechte der Arbeiter*innen. Menschen sollen sich nicht mehr frei bewegen und arbeiten können, dafür aber unter stärkerem Lohndruck stehen. Es geht nicht um Souveränität, sondern um ein Treten von oben nach unten. Und dagegen müssen wir uns alle wehren. 

Bild: zvg

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