Was wir von einem sowjetischen Oberleutnant lernen können

Wenn die Historiker einmal auf diese Zwanzigerjahre zurückblicken, sie werden viel zu berichten haben. Wir leben zweifelsohne in turbulenten Zeiten. Kaum beruhigte sich das Covid-Infektionsgeschehen einigermassen, marschierten Ende Februar Putins Truppen in die Ukraine ein und starteten damit einen aggressiven Angriffskrieg mitten in Europa. Das Undenkbare wurde zur brutalen Wirklichkeit. Seither verfolgen uns die Bilder des Schreckens. Aus der Ukraine erreichen uns so viel Tod, Zerstörung und Verzweiflung, und langsam beschleicht uns alle das Gefühl, dass die Menschheit daran ist, ihre eigene Geschichte zu wiederholen.

Angesichts dieser Düsterkeit verlieren viele die Hoffnung auf Besserung. Eine Mehrheit der jungen Menschen glaubt heute, dass ihre Zukunft schlechter sein wird als die ihrer Eltern. Eine schreckliche Perspektive! Da stellt sich unweigerlich die Frage: Woraus schöpfen wir in solchen Zeiten Hoffnung?

Schnell erzählt wären an dieser Stelle Heldengeschichten. Mutige Frauen und Männer, die den Verlauf der Weltgeschichte entscheidend geprägt haben, nicht selten unter Einsatz ihres Lebens. Sophie Scholl, Martin Luther King, Nelson Mandela, Patrice Lumumba, Olympe de Gouges, Rosa Luxemburg, Paul Grüninger, Lilo Frey. Es gäbe viele weitere zu erwähnen.

Es gibt aber auch andere; Geschichten mit weniger Pathos. Menschen wie Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow. Die meisten können mit diesem Namen wenig anfangen, und doch hat er die Menschheitsgeschichte wie kaum ein anderer geprägt. Am 26. September 1983 verhinderte der sowjetische Oberleutnant einen Atomkrieg und damit den dritten Weltkrieg.

Er war ausser Dienstplan in dieser Nacht in der Moskauer Überwachungszentrale eingesprungen, zur Schichtleitung des Satellitenfrühwarnsystems. Kurz nach Mitternacht meldete das System eine Warnung: Eine amerikanische Rakete mit zwölf nuklearen Sprengköpfen sei auf dem Weg in die Sowjetunion.

12 Minuten blieben Petrow um zu entscheiden, was zu tun sei. Er beschloss, nichts zu tun. Er befahl den zweihundert Mitarbeitenden, abzuwarten, erhielt von seinem Vorgesetzten eine Rüge, weil er das Dienstprotokoll nicht ausgefüllt hatte, und rettete dabei die Welt.

Wenn ich die Bilder aus Butscha, aus Mariupol und aus Odessa sehe, und mich frage, woraus wir in Zeiten wie diesen Hoffnung schöpfen – dann denke ich an Stanislaw Petrow. Er gibt mir Hoffnung. Weil ich weiss, er war kein Messias, kein Auserwählter, kein Revolutionär. Er war ein ganz normaler Mensch, der sich dafür entschied, das Richtige zu tun. Und das können wir schliesslich alle: Erstens müssen wir grosszügig und solidarisch mit den Geflüchteten aus der Ukraine sein. Zweitens ist der Umbau zu einer von Öl und Gas unabhängigen Energieversorgung absolut dringend und fordert unseren vollen Mitteleinsatz. Und schliesslich müssen wir endlich aufhören, mit den Machthabern, Diktatoren und Kriminellen dieser Welt ohne Rücksicht auf Menschenrechte und Demokratie Geschäfte zu machen. Also, legen wir los!

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