Die 1. Mairede 2023 – Es gilt das gesprochene Wort.
Kürzlich war ich in der SRF Arena zum CS-UBS-Deal. Ziemlich erschöpft lief ich an diesem Freitagabend aus dem Fernsehstudio im Leutschenbach in Zürich in Richtung Taxi. Der Taxifahrer öffnete mir die Türe und wir fuhren los. Ich bemerkte, wie schön es doch sei, dass es wieder länger hell sei und so kamen wir ins Gespräch. Wir unterhielten uns über den rasanten technologischen Fortschritt und dessen Auswirkungen auf gewisse Berufsgruppen, über die vielen Sorgen und was man dagegen tun könnte.
Irgendwann kam der Fahrer auf den CS-UBS-Deal zu sprechen. Er zeigte sich empört darüber, dass innert kürzester Zeit so viele Milliarden Franken für Grossbanken gesprochen wurden, aber soziale Anliegen immer auf die lange Bank geschoben würden. Ich lachte seufzend auf und erklärte ihm, dass ich gerade in der Arena zu diesem Thema diskutiert habe. Da schaute er entgeistert in den Rückspiegel: «Aber Sie sind doch nicht etwa Frau Marti?»
Es stellte sich heraus, dass er – nennen wir ihn Herr T. – erfolglos nach meiner Postadresse gesucht hatte, um mir mit einem Brief seine Geschichte zu erzählen. Herr T. kam vor etwa zehn Jahren aus Polen in die Schweiz, um als Palliativpfleger zu arbeiten. Heute ist er siebzig Jahre alt und obwohl er längst das Rentenalter überschritten hat, arbeitet er immer noch. Wie kann es so weit kommen?
Die monatliche AHV-Rente von Herr T. beträgt über den Daumen gepeilt lächerliche 100 Franken. Um sein Leben zu finanzieren, muss er also weiterarbeiten. Doch das ist gar nicht so einfach. Viele Arbeitgeber haben Mühe damit, einen 70-jährigen Rentner hochprozentig einzustellen, und die Löhne in der Taxibranche sind tief. Wenn die Renten die minimalen Lebenskosten nicht decken können, hat unser Sozialsystem dafür Ergänzungsleistungen vorgesehen. So soll niemand im hohen Alter in Armut leben.
Nachdem Herr T. einige Monate EL bezogen hatte, begann das Migrationsamt, ihn mit seitenlangen Fragekatalogen zu belagern, etwa wieso er seinen Unterhalt nicht anderweitig finanzieren könne oder ob er noch Verwandte im Herkunftsland habe. Monat für Monat musste er diese Fragen beantworten und beweisen, dass er keinen Sozialmissbrauch betreibt. Die ständige Rechtfertigung belastete ihn psychisch so stark, dass er beschloss, auf das Geld zu verzichten.
Herr T. ist nicht der einzige in dieser Situation. Schuld ist eine Verschärfung im Ausländerrecht, die alle Armutsbetroffenen ohne Schweizer Pass unter Generalverdacht stellt. Aus Angst, dass sie die Schweiz verlassen müssen, verzichten sie oft auf die notwendige Unterstützung. Die Folgen: private Schulden, soziale Isolation und ein Zweiklassen-Sozialstaat.
Schuld ist aber auch eine politische Haltung, mit der bedürftige Menschen von oben bis unten beäugt und Sozialhilfebeziehende Tag und Nacht von Detektiven überwacht werden und Steuerhinterziehung nach wie vor ein Kavaliersdelikt ist. Schuld ist diese Haltung, mit der Armutsbetroffene wie Schwerverbrecher, und Steuerbetrüger wie Könige behandelt werden.
Es sind die Zyniker, die den Firmen zujubeln, die ihren Angestellten miese Löhne zahlen, ihre Arbeitskraft ausbeuten oder sich mit Scheinselbstständigkeit sogar um Sozialversicherungsabgaben drücken, und solche Machenschaften unter dem Begriff der «wirtschaftlichen Innovation» abfeiern.
Es sind die gleichen, die sagen, «Arbeit muss sich lohnen» und damit nicht für existenzsichernde Löhne einstehen, sondern für Sozialhilfekürzungen bei Alleinerziehenden. Sie sagen «Arbeit muss sich lohnen» und lassen uns alle mit 259 Milliarden für die jahrelange Misswirtschaft und die unterirdisch schlechte Arbeit der bestbezahlten Abzocker in diesem Land bürgen.
Es ist diese Realitätsverweigerung, wenn die Bankenparteien uns seit Jahrzehnten weis machen wollen, dass in diesen Manager-Etagen die sogenannten Leistungsträger unserer Gesellschaft sitzen, und sie gleichzeitig eine wirkungsvolle Umsetzung der Pflegeinitiative boykottieren.
Es ist die Boshaftigkeit, mit der man 32 Milliarden Boni-Zahlungen bei der CS verteidigt und gleichzeitig sagt, wir könnten uns existenzsichernde AHV-Renten nicht leisten.
Es ist diese Arroganz, wenn man zehntausend oder mehr pro Monat abkassiert, und dann davor warnt, dass ein erhöhtes Drittbetreuungsangebot dazu genutzt werden könnte, dass Mütter und Väter zuhause eine faule Nummer schieben würden.
Es ist diese Scheinheiligkeit, wenn man sich als bürgerliche Partei bezeichnet und gleichzeitig gleichgültig dabei zuschaut, wie Frauen, die ihr Leben lang unbezahlte Haus- und Familienarbeit geleistet haben, nach der neusten Rechtsprechung nach der Scheidung keinen roten Rappen von ihren Ex-Männern erhalten und verzweifelt den Wiedereinstieg ins Berufsleben versuchen.
Es ist diese Schamlosigkeit, wenn man sich Familienpartei nennt, und gleichzeitig höhere Prämienverbilligungen für Familien und Alleinstehende in bescheidenen Verhältnissen verhindert und sich mit ein paar Allgemeinplätzen aus der Verantwortung stiehlt.
Es ist diese Dreistigkeit, mit der sie in der Pensionskassenreform für alle Versicherten die Renten kürzen und gleichzeitig nichts dagegen tun, dass die Verwaltung unserer Vorsorgegelder zu einem milliardenschweren, lukrativen Geschäft für Banken und Versicherungen geworden ist.
Es ist diese Arroganz, die mich wütend macht, wenn Erdöl-Firmen seit Jahrzehnten unseren Planeten terrorisieren und sie nun junge, besorgte Menschen, die sich dagegen wehren wollen, als Klimaterroristen diffamieren.
Es ist dieses Feindselige, die mir weh tut, wenn sie darüber reden, wie ein echter Schweizer Fussball spielt und damit so vielen unserer Kinder und Jugendlichen jeden Tag das Gefühl geben, nicht dazuzugehören.
Damit muss Schluss sein. Wir müssen dieses marode System mit diesen vielen Absurditäten vom Kopf wieder auf die Füsse stellen. Denn es sind Menschen wie Herr T., die von der rechten Politik vergessen werden. Es ist die Frau, die nach zwanzig Ehe mittellos und verzweifelt im Regen steht.
Es ist das Ehepaar, das nach einem langen Arbeitsleben kurz vor der Pensionierung merkt, dass von dem angesparten Alterskapital nicht mehr viel übrig ist. Ja, es sind sogar die invaliden Kinder mit seltenen Krankheiten und ihre Eltern, die im Stich gelassen werden.
Das Gute daran: Das sind alles keine Naturgesetze, sondern das Resultat bewusster politischer Entscheide der rechten Mehrheit in diesem Land. Das heisst, wir können es ändern.
Es braucht endlich Löhne und Renten, die fürs Leben reichen. Es braucht ein Steuersystem, dass Milliardärsfamilien in die Pflicht nimmt und nicht mehr mit beiden Augen wegschaut, wenn sie ihre Vermögen vor dem Fiskus verstecken.
Es braucht ein Banken- und Finanzwesen, das für die Realwirtschaft funktioniert wie die Luft in unseren Lungen, ohne die spekulativen Produkte und Geschäfte, die jederzeit den ganzen Organismus ausschalten können. Es braucht ein Rentensystem, das ein Altwerden in Würde für alle mit oder ohne Schweizer Pass sicherstellt.
Es braucht eine Politik, in dem Familien- und Sorgearbeit überall mitdenkt und ins Zentrum gestellt wird, so dass Frauen, die diese Arbeit zu grössten Teilen leisten, nicht mehrfach die Rechnung dafür bezahlen müssen.
Es braucht ein soziales Netz, das uns auch wirklich auffängt, wenn wir einmal fallen. Es braucht einen Planeten, den wir ohne schlechtes Gewissen unseren Nachkommen überlassen können.
Es braucht eine Gesellschaft, in der alle mit Respekt und Würde begegnet werden. Denn Banken sind vielleicht too-big-to-fail, aber die Menschen sind für mich too-important-to-forget.