Die Magie des 1. Januars

Als Kind lag ich an den Abenden vor meinen Geburtstagen jeweils lange wach. Zu gross war die Vorfreude auf den kommenden Tag. Ich konnte es kaum erwarten, endlich ein Jahr älter zu sein. Was wäre bloss alles möglich, wenn ich nur endlich gross wäre! Ich könnte alles selbst entscheiden, frei und ungebunden. Mit jedem Geburtstag kam ich dieser – zugegeben unrealistischen – Idee des Erwachsenseins näher. Für die kleine Samira war das magisch.

Heute ist der eigene Geburtstag weniger aufregend. Er bietet vor allem die Möglichkeit, mit seinen Liebsten eine schöne Zeit zu verbringen. Doch die Jahre fliegen dahin. Der Sommer geht zu schnell vorbei, zu rasch werden die Tage kürzer und dunkler, und schon steht wieder ein Jahreswechsel an. Und damit die Magie des ersten Januars.

Nehmen Sie sich Vorsätze fürs neue Jahr? Ich bin damit eher zurückhaltend. In unserer Selbstoptimierungsgesellschaft scheint es nicht an Selbstkontrolle und hohen Ansprüchen zu mangeln. Dabei rücken andere wichtige Eigenschaften vermehrt in den Hintergrund. Ich für meinen Teil lasse deshalb Vorsätze weg und beschränke mich auf Wünsche – für mich selbst, aber auch für uns als Gemeinschaft.

Träumen ist in diesen dunklen Zeiten ja fast eine revolutionäre Tat. Vor lauter Krieg, Krisen und Elend verlieren viele unter uns den Glauben. Den Glauben an eine gute Zukunft, den Glauben an Frieden, manche verlieren gar den Glauben an die Menschheit.

Da wage ich es lieber zu wünschen, oder eben zu träumen. Der erste Januar bietet dazu die Gelegenheit: Was wäre, wenn?

In unserer reichen Schweiz war schon vor Corona jede sechste Person von Armut betroffen oder lebte nur knapp über der Armutsgrenze. Heute sind es über zwei Millionen Menschen, darunter viele Alleinerziehende und Menschen mit geringer Ausbildung. In der Schweiz arm zu sein bedeutet, dass man bei Zahnschmerzen ins Schwitzen gerät, weil man sich den Zahnarztbesuch nicht leisten kann. Es bedeutet, dass die Rechnung fürs Klassenlager der Kleinen liegen bleibt. Und nicht zuletzt bedeutet es, allzu oft den politischen Sündenbock zu sein, öffentlich als Schmarotzer, Taugenichts oder sogar als faul beleidigt zu werden.

Was wäre, wenn? Was wäre, wenn wir gemeinsam im kommenden Jahr diese soziale Kälte beenden und die Armut verhindern, anstatt die Armen zu bekämpfen? Was wäre eine Schweiz der Empathie und Solidarität, ohne Armut und Ausgrenzung?

Am ersten Januar ist das mein Wunsch für das kommende Jahr. Aber es ist auch die Handlungsprämisse bei meinem Wirken als Nationalrätin in Bern: Es braucht mehr konkrete Politik für eine sozialere Schweiz, so dass alle Menschen vom wirtschaftlichen Fortschritt profitieren und in Würde leben können. Mit mehr Chancengleichheit, mit höheren Löhnen und Renten und starken Sozialwerken könnten wir die Armut ein für alle Mal verhindern.

Denn was wäre, wenn kein Kind mehr traurig sein muss, weil das Geburtstagsfest nicht drin liegt? Die einen nennen es Barmherzigkeit, die anderen Solidarität. Für mich spielt das keine Rolle. Hauptsache, niemand wird zurückgelassen.

Dieser Text erschien am 3.1.2023 in der Volksstimme.

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