Ansprache vom 26. Juni 2019 in der Leonhardkirche in Basel – es gilt das gesprochene Wort.
Liebe Absolventinnen, liebe Absolventen, liebe Eltern, liebe Grosseltern und Geschwister, liebe Lehrer- und Lehrerinnenschaft, liebe Anwesende
Ich habe mich sehr gefreut über die Möglichkeit, heute zu euch zu sprechen. Denn es ist noch nicht lange her, als ich selbst in einer solchen Aula sass und mein Maturzeugnis überreicht bekam.
Das war in Lausen, Baselland, in dieser Dreifachhalle. Zusammen mit ein paar hundert anderen Menschen sass ich in der eleganten Kleidung zwischen meiner Klasse, meine Eltern und meine Geschwister sassen weiter hinten bei den Angehören.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mich da gefühlt habe. Übernächtigt, aufgeregt und voller Emotionen, die widersprüchlicher nicht sein konnten. Ich war überglücklich, endlich die strenge Prüfungszeit hinter mir zu haben, all die Mathe-Übungsblätter, all die im Internet gefundenen Zusammenfassungen der Deutsch-, Englisch- und Französischbücher, all die Merkblätter endlich endlich endlich verbrennen bzw. recyclen zu können. Wir haben tatsächlich ein kleines Feuer hinter der Schule gemacht. Ich war aber auch tieftraurig, weil ich die Gymizeit – trotz langen Tagen, trotz Schule am Samstag, trotz den vielen Prüfungen – wegen den vielen tollen Begegnungen und Freundschaften genossen habe. Und ich war nervös, weil ich keine Ahnung hatte, was jetzt auf mich wartete im Leben. Alle sprachen davon, dass uns die Welt offen stehe, dass wir alles machen können, was wir schon immer tun wollten, und dass wir unbedingt unsere Träume verwirklichen sollten. Und ich sass da unten, inmitten meiner Freundinnen und Freunde, und war völlig überfordert mit den offensichtlich neu gewonnenen Freiheiten.
Darum weiss ich wahrscheinlich auch nicht mehr, wer an unserer Abschlussfeier gesprochen hatte. Der ältere Herr, dessen Namen ich nicht mehr weiss, sprach auf jeden Fall viel von den Träumen und den Chancen, die wir packen sollten. Von den tausenden Möglichkeiten, die wir nun haben würden. Aber um ehrlich zu sein, waren es ziemlich viele Floskeln, die mich fast ein bisschen an Instagram-Strand-und-Palmenbilder-Sprüche erinnerten: Wer nicht kämpft hat schon verloren. Don’t dream your life, live your dreams.
Und auch wenn ich müde, überwältigt und wahrscheinlich auch etwas verkatert wegen der vielen Abschlusspartys war, wusste ich eines ganz genau: Ich werde sicher nicht die Welt alleine neu erfinden und ich – ob ich es wollte oder nicht – würde mir meinen Platz in unserer Gesellschaft suchen müssen. Nicht, dass ich alles akzeptieren wollte. Die Welt habe ich mir schon damals anders gewünscht: Eine Welt, in der wirklich alle ihre Träume leben können, unabhängig von Passfarbe, Geschlecht und Reichtum, egal ob in der reichen Schweiz, oder im globalen Süden geboren. Die Realität heute ist ja leider eine andere.
Was ich in den letzten 8 Jahren erleben durfte, seit ich meine Matur abgeschlossen habe, bestätigte das: Die Welt da draussen ist keine grüne Wiese, auf der wir frisch fröhlich unsere Ideen und Träume widerstandslos verwirklichen können. Natürlich nicht. Wenn ihr da raus geht, raus aus der Türe dieser Aula, mit eurem wohlverdienten Zeugnis in der Hand, und all dem Wissen und den Erfahrungen, dass ihr euch in den letzten Jahren angeeignet habt dann steht ihr nämlich inmitten der schönen Stadt Basel, und rund um euch herum wirken die Menschen, nicht alleine und isoliert, sondern gemeinsam, in einem wahnsinnig komplexen Netz von Beziehungen. Kein harmonisches Netz, im Gegenteil. Er herrscht ein ständiges Kräftemessen zwischen diversen Interessen. Klimaschutz oder Profitmaximierung? Gleichstellung oder Dumpinglöhne? Shareholder-Interessen oder gerechtes Steuersystem? Parkplätze oder Fussgängerzone? Nachtruhe oder Partymeile? Coop- oder Migros-Kind?
Völlig wertfrei betrachtet ist das weder schlimm noch überraschend. Es ist schliesslich viel interessanter, in dieses Netz einzusteigen und mit zu zerren, statt auf der grünen Wiese alleine zu basteln. Allerdings muss man sich ab und zu entscheiden, in welche Richtung man mitzieht. Ich für mich habe mich entschieden, in die Politik zu gehen, damit ich sozusagen den ganzen Tag lang das Netz gestalten kann. Weil ich so unzufrieden, so enttäuscht war, als ich in eurem Alter realisierte, wie ungerecht und unausgeglichen unsere Welt heute funktioniert.
Damit meine ich nicht: Geht alle in die Politik und macht alle genau meinen Weg, im Gegenteil. Es ist sehr gut möglich, dass ihr damit nichts anfangen könnt oder eine völlig andere Vision unserer Welt habt. Darum geht es mir. Hauptsache, ihr habt eine. Hauptsache, ihr wisst, was ihr von eurem Umfeld, von unserer Gesellschaft oder von der Schweiz einfordert. Wofür ihr als Knoten in diesem Netz kämpfen wollt. Aufbauend auf euren Werten, auf euren Prioritäten, eurer Weltanschauung, vielleicht auch eurem Glauben. Ich bin überzeugt, dass ihr das alle bereits in eurem Rucksack dabei habt. Dass ihr eure Grundsätze kennt.
Und obwohl ich heute eigentlich mit dem festen Vorsatz gekommen bin, euch keine Ratschläge zu geben, keine halb wahren Weisheiten, keine Insta-Sprüche, muss ich meinen Vorsatz brechen – ich bin schliesslich auch nur eine Politikerin 😉 – denn eines möchte ich euch wirklich ans Herz legen. Wenn ihr da raus geht, raus aus der Türe dieser Aula, mit eurem wohlverdienten Zeugnis in der Hand, dann seid nicht verunsichert, lasst euch nicht irritieren ab der vielen Möglichkeiten, sondern geht selbstbewusst hinaus in die weite Welt, werft euch in das Netz und vertraut euch selbst. Hört auf eure Intuition. Orientiert euch an euren Grundsätzen, an eurer Wertehaltung. Ihr habt sie in eurem Rucksack und in eurem Herzen nämlich immer dabei. Sie sind der beste Kompass in einer Welt, die immer weniger von Werten und immer mehr von Zahlen regiert wird. Danke!